10. Seminar Planungs- und Architektursoziologie (SS 99)

"Die andere Moderne? - Berliner Wohnungs- und Siedlungsbau im Nationalsozialismus"

und Entwicklungen der Nachkriegszeit

(Prof. Dr. Bodenschatz / Betreuung: Baudach & Sollich)
 
 
 

DIE STALINALLEE  (Fotos hierzu...)
 
 

Vorworte

"Quer durch ein trostloses Trümmerfeld zieht sich die Stalinallee im Ostsektor von Berlin. Ihre kaum vom Verkehr belebte Pracht, die für ein vom Volk verhaßtes totalitäres Regime werben soll, wurde der Ausgangspunkt des Aufstandes vom 17. Juni 1953."
("Das Wissen des 20. Jahrhunderts", Verlag für Wissen und Bildung, Rheda 1959)

"Die Stalinallee ist der Grundstein des Aufbaues zum Sozialismus in der Hauptstadt Deutschlands, Berlin"
(Walter Ulbricht)

"Auf´m Strausberger Platz treff ick meinen Schatz"
(Nina Hagen)

"Wie groß die Kraft ist, die von der Baukunst ausgehen kann, erleben wir eben jetzt am Beispiel der Stalinallee in Berlin. Sie wuchs, getragen von dem Willen der Werktätigen der Deutschen Demokratischen Republik, in unwahrscheinlich kurzer Zeit. Sie begeisterte Hunderttausende zu freiwilliger Mitarbeit und wurde Millionen in Ost und West Zeichen unseres nationalen Selbstbehauptungswillens und des sozialistischen Aufbaus unserer Heimat. Worin liegt diese Wirkung begründet? Natürlich hat der große Umfang dieses Bauvorhabens seinen Anteil daran. Auch die Tatsache, daß es in der Hauptstadt Deutschlands entsteht, ist von großer Wichtigkeit. Doch beides hätte nicht ausgereicht, die Stalinallee zum Symbol werden zu lassen, wenn die Menschen unseres Volkes in diesen Bauten nicht ihre Heimat wiedergefunden und sich selbst wiedererkannt hätten. Denn die Stalinallee ist nicht nur eine großartige materielle Leistung unserer unter Führung der Arbeiterklasse begeistert schaffenden Menschen. Sie spiegelt auch deren Hoffnungen wider, kündet stolz von schon erreichten Erfolgen und von der Siegesgewißheit, die uns alle erfüllt."
("Deutsche Baukunst in zehn Jahrhunderten", Schriften des Instituts für Theorie und Geschichte der Baukunst der Deutschen Bauakademie (Hg.), Dresden 1952)

"Die sozialistische Antwort auf Westberlins Aufschwung ist der monumentale Kitsch der Stalinallee, deren Dimensionen ebenso überwältigend sind wie ihre Geschmacklosigkeit."
(Gabriel García Márquez)

"Die Karl-Marx-Allee ist der einzige Prachtboulevard Berlins mit eigenständigem und geschlossenem architektonischen Konzept
von europäischem Rang"
(Werbetext der "Forum Vermietungs- und Betreuungsgesellschaft mbH")

"Was, außer der Stalinallee, bleibt es an städtebaulichen Errungenschaften für das zwanzigste Jahrhundert zu benennen?"
(Philip Johnson in einem Brief an Hermann Henselmann)

"Die letzte große Straße Europas"
(Aldo Rossi)
 

Einleitung

Der in den fünfziger Jahren im Berliner Bezirk Friedrichshain als Stalinallee entstandene Straßenzug legt bis heute, knapp 50 Jahre nach Planungsbeginn, Zeugnis ab von seiner bewegten Vergangenheit und läßt noch ahnen, mit welcher Faszination sein Werden in der Nachkriegszeit des städtebaulichen und politischen Wiederaufbaus begleitet war.
Zahlreiche Attribute, die in den offiziellen Verlautbarungen und Publikationen jener Jahre zu finden sind, weisen der Stalinallee ausgesprochen symbolische Bedeutung als Ausdruck des Aufbauwillens zu, den Blick in eine friedliche und vor allem sozialistische Zukunft gewandt, in der  "diejenigen Menschen , die am meisten am sozialistischen Aufbau beteiligt sind, die die größten Leistungen vollbringen, auch diejenigen sind, die am besten wohnen und ein angenehmes Dasein führen." (SED-Vorsitzender Bruno Baum 1952)
Obwohl die Nachkriegsjahre in Ost und West längst Teil der Geschichtsschreibung geworden und das mit dem Aufbau und den steingewordenen Idealen verbundene politische System der DDR  verschwunden ist, finden die zugrunde liegenden städtebaulichen Prinzipien und ihre architektonische Ausformung auch aus heutiger Sicht zahlreiche Befürworter und Anhänger, wie die Zitate Philip Johnsons oder Aldo Rossis zeigen.
Nicht zuletzt der Status als "längstes zusammenhängendes Baudenkmal Deutschlands" unterstreicht die Bedeutung, die dem lange Zeit eher vernachlässigt ins Hintertreffen geratenen Gebäudeensemble beigemessen werden kann.
 

Die Straße nach Frankfurt im historischen Kontext

Was auch heute als Bundesstraße 1 ins südöstlich gelegene Frankfurt an der Oder führt, stellte bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts einen wichtigen Handelsweg dar.
Einen Teil der Strecke auf dem Weg zu seinem Schloß Friedrichsfelde ließ Markgraf Albrecht Friedrich von Schwedt um 1701 in eine breit angelegte Lindenallee umwandeln. Sie erhielt den Namen "Große Frankfurter Straße" und östlich der heutigen Weberwiese "Frankfurter Chaussee".
Bis zu diesem Zeitpunkt tagte im Bereich des jetzigen Strausberger Platzes seit dem Mittelalter das Berliner Hochgericht, das hier die gefällten Todesurteile durch Hängen, Rädern oder Lebendigbegraben vollzog. Bekanntestes Opfer war der in Heinrich von Kleists Novelle verewigte Hans Kohlhase, der als "märkischer Robin Hood" Schrecken unter den Adligen Brandenburgs verbreitete und dafür 1540 an dieser Stelle am Rad starb. (Ein Teil seiner Beute soll der Sage nach noch heute in Kohlhasenbrück am Wannsee vergraben liegen.)
Nachdem bereits König Friedrich I. von seiner Krönung in Königsberg kommend über diesen Weg nach Berlin einzog, kam ihm eine Funktion als Heerstraße vor allem unter Friedrich dem Großen zu. Napoleons Armee zog nach Rußland und 1812 geschlagen wieder zurück und zuletzt marschierte hier im April 1945 die Rote Armee in die durch Bombenangriffe größtenteils verwüstete Allee ein.
Nach Verlegung des Hochgerichtes entstand an seiner Stelle, nach wie vor in der Peripherie gelegen, das erste Frankfurter Tor als Teil der Stadtbefestigung. Dieser Standort verschob sich in Folge der Stadtentwicklung und ihrer Ausdehnung mehrmals in Richtung Osten, bis die Steuereinnahmestellen 1865 an die äußere Stadtgrenze verlagert und die Stadttore damit zwecklos wurden.  Das Frankfurter Tor wurde wie die übrige Stadtbefestigung im darauffolgenden Jahr abgerissen und die entstehenden Parzellen verkauft.
So kam es in diesem noch wenig bebauten Bereich zum Bau von Sommerhäusern und zur Ansiedlung vor allem holländischer oder hugenottischer Réfugies. Heute erinnert die Bezeichnung "Straße der Pariser Kommune" daran.
Im ringförmigen Verlauf der nicht mehr vorhandenen Stadtmauer richtete die 1871 gegründete "Große Berliner
Pferdeeisenbahngesellschaft" die erste innerstädtische Bahnverbindung ein.
1872 wurde die Frankfurter Chaussee nach erfolgten Umgestaltungen im Bereich der Großen Frankfurter Straße und an Stelle des Frankfurter Tors in Frankfurter Allee umbenannt.
Wie in anderen Bezirken kam es in den folgenden Jahren der Gründerzeit bis zum Ersten Weltkrieg zum Entstehen dichter Stadtstrukturen und Mietskasernen wie Gewerbebetriebe bestimmten zunehmend das Straßenbild.
Die damit verbundene Konzentration von Menschen, ihrer Armut und auch wachsendem Unmut läßt sich ablesen anhand der Zahl der hier - im Bereich  der später mit dem Attribut "Frieden"  versehenen Stalinallee - gewaltsam ums Leben Gekommenen.
Bereits im März 1848 hatten am Frankfurter Tor blutige Revolutionskämpfe stattgefunden, woran eine heute am "Haus Berlin" angebrachte Gedenktafel erinnert. 1918/19 war die Frankfurter Allee erneut einer der Schauplätze von folgenreichen Straßenschlachten und im Januar 1930 kam es in der Großen Frankfurter Straße zu Auseinandersetzungen zwischen Rotfrontkämpfern und Nationalsozialisten, wobei der deshalb drei Jahre später zum Namensgeber des Bezirks avancierende Student Horst Wessel ums Leben kam.
Ebenfalls 1930 enstanden mit dem Bau der U-Bahnlinie E die heutigen U5-Bahnhöfe Strausberger Platz, Weberwiese (zwischenzeitlich Marchlewskistraße) und Frankfurter Tor nach Plänen von Alfred Grenander. Ein Werbespruch aus Nachkriegstagen dichtete darauf: "Mit der U-Bahnlinie E zu den Läden der Allee".
Nach einigen Monaten "anglo-amerikanischen Bombenterrors" (Amt für Information des Magistrats von Groß-Berlin in einer Broschüre zur Ausstellung der Wettbewerbsergebnisse 1951), dem stärksten Luftangriff auf die Frankfurter Allee am 3. Februar 1945 und den folgenden Straßenkämpfen waren zwischen 45 und 68% aller Gebäude zerstört. Das verheerende Ausmaß besonders direkt entlang des Straßenzugs läßt sich an der Kartierung im Schadensplan für Friedrichshain ablesen.
Zu den zerstörten Einrichtungen von übergeordneter Bedeutung zählt unter anderem auch das Rose-Theater, das bei Straßenkämpfen am 29. April 1945 abbrennt. Seit 1995 erinnert eine Gedenktafel am Haus Karl-Marx-Allee 78 daran.
 

Stadtplanung und Spaltung

Bereits kurz nach der Kapitulation anstatt in einer von den Nationalsozialisten verheißenen Zukunft in Form eines gigantomanischen Germanias in den Trümmern der noch rauchenden Ruinen erwachend und gerade zur Besinnung kommend, geht es ab Mitte 1945 unverzüglich an erste Wiederaufbau-Planungen.
Voneinander unabhängig beginnen das sogenannte "Kollektiv" unter Leitung von Hans Scharoun  im Berliner Magistrat und ein Arbeitsstab um Walter Moest im Bezirksamt Zehlendorf mit Konzeptionen für Gesamt-Berlin.
Nach der Ausstellung "Berlin plant" im Weißen Saal des noch existierenden Stadtschlosses und der daraufhin wegen großer Wohnungsnot als utopisch abgelehnten Neuordnung der Stadtstruktur, die der Kollektivplan vorsieht, entscheidet sich der Bauwirtschaftsausschuß des Magistrats im April für den vorliegenden Zehlendorfplan. Hans Scharoun wird im Amt des Stadtbaurats von Karl Bonatz abgelöst, der 1948 einen weiteren Entwicklungsplan erstellt, bevor  Gesamt-Berliner Stadtplanung mehr und mehr aufgrund der politischen und administrativen Teilung in Ost und West Gegenstand zweier konkurrierender
Systeme wird.
Am 30. November 1948 bildet sich unter Oberbürgermeister Friedrich Ebert ein neuer Magistrat im sowjetischen Sektor Berlins, der den Plan des Kollektivs unterstützt. Mitte 1949 wird so das überarbeitete Konzept zum Generalaufbauplan für den Ostteil der Stadt.
Zeitgleich mit der Umbenennung der Großen Frankfurter Straße und der Frankfurter Allee in Stalinallee "als Ausdruck der tiefen Verehrung unseres Großen Denkers und der unverbrüchlichen treuen Freundschaft zu Stalin und den Völkern der Sowjetunion" (Berliner Zeitung) mit Aufmarsch, Feuerwerk und Abspielen der Nationalhymnen erfolgt die Grundsteinlegung für die "Wohnzelle Friedrichshain" zu Stalins 70. Geburtstag am 21. Dezember 1949.
 

Wohnzelle Friedrichshain im Wertewandel

Namentlich vom zuständigen neuen Stadtrat für Bau- und Wohnungswesen, dem Sozialdemokraten Arnold Munter, und dem Friedrichshainer Bezirksbürgermeister Gustav-Adolf Werner vorangetrieben, formen sich im Spätsommer 1949 erste konkrete Überlegungen zu einem sogenannten Stadtdorf für den Bereich zwischen Weberwiese und Warschauer Straße.
Angestrebt ist dabei eine Synthese aus Gartenstadt (in Anlehnung an die Gartenstadt- und Heimstättenbewegung der zwanziger Jahre), Industriesiedlung und Landstadt.
Als Größenordnung einer Zelle wird, abgeleitet von der Schülerzahl einer Oberschule, von 5000 Einwohnern ausgegangen. Von der daraus resultierenden Bettenzahl leiten sich acht Wohnungsgrundrisse ab, die auf Ein- und Zweifamilienhäuser, Zweispänner und verschiedene Laubenganghäuser übertragen werden.
Am 3. November 1949 gründet sich auf Beschluß des Magistrats hin die volkseigene Grundstücksverwaltung "Heimstätte Berlin" unter Leitung von Karl Brockschmidt, der 1953 bei der politischen Führung in Ungnade fällt und Selbstmord begeht.
Der vom Magistrat mit der Gestaltung der Wohnzelle beauftragte Hans Scharoun entwirft ein aufgelockertes Konzept mit zeilen- und clusterartiger Bebauung, das im folgenden vom Planungsbüro der "Heimstätte Berlin" ausgearbeitet wird. Verantwortlich hierfür zeichnet Ludmilla Herzenstein, die mit Scharoun im Planungskollektiv gewirkt und unter anderem bei Bruno Taut die Bauleitung von Onkel-Toms-Hütte inne hatte.
Geplant sind allein für das folgende Jahr 576 Wohnungen mit zentralem Waschhaus.
Doch bereits zu Beginn der Bauarbeiten wird deutlich, daß aufgrund zu Tage tretender Kritik und wachsenden Widerstandes die Ausführung der Wohnzelle Friedrichshain in geplanter Form kaum zu realisieren sein wird. Zur Ausführung kommen mit insgesamt 376 Wohnungen lediglich zwei fünfgeschossige Laubenganghäuser von Ludmilla Herzenstein (heute Karl-Marx-Allee 102/104 und 126/128) sowie sechs südlich davon zwischen Hildegard-Jadamowitz-Straße und Graudenzer Straße angrenzende viergeschossige Zeilenbauten von Helmut Riedel. (Foto 2)
Zeitgleich mit der Gründung der DDR im Oktober 1949 erfolgt eine zunehmende Zuspitzung der politischen Situation zwischen Ost und West. Auch von den Planungsorganen wird in diesem Zusammenhang eine immer stärker ideologische Ausrichtung erwartet. Zudem kommt es in Berlin zu einer Art Kompetenzgerangel zwischen städtischem Magistrat und dem staatlichen Ministerium für
Aufbau.
Der 1947 aus dem sowjetischen Exil zurückgekehrte Vorsitzende der National-Demokratischen Partei Deutschlands und stellvertretende Ministerpräsident der DDR, Lothar Bolz, betreibt als Minister für Aufbau maßgeblich den Wandel hin zum neuen städtebaulichen Leitbild. Gemeinsam mit Kurt Liebknecht, Direktor des dem Ministeriums für Aufbau angegliederten Instituts für Städtebau und Hochbau, setzt er sich durch mit der Forderung nach vornehmlich repräsentativer Architektur, die "die symbolische Bedeutung für den Aufbau von Berlin" unterstreichen und "besser den Fortschritt und die Stärke unserer neuen Staatsform ausdrücken" soll "als die kleinen vorgeschlagenen Wohnbauten, die an die Gehag und Gagfah-Siedlungen der
Weimarer Zeit erinnern".
Edmund Collein vom Hochbauamt des Magistrats begründet die ablehnende Haltung gegenüber der Architektur der Laubenganghäuser wie folgt:
"Die sogenannte "Maschinen-Ästhetik" des Formalismus, die sich nur noch von Funktion, Konstruktion und Material leiten ließ, entfernte sich mit ihrer "neuen Sachlichkeit" in der Architektur immer mehr von der Idee eines Bauwerkes und leugnete damit die Kunst. Sie war und ist ein Ausdruck des verfaulenden Kapitalismus, der nicht mehr in der Lage ist, der Kunst einen humanistischen Inhalt zu bieten. Der von der Ausbeutung befreite Mensch erhebt Anspruch auf Befriedigung seines Schönheitsempfindens und auf Repräsentation seiner gesellschaftlichen Stellung. Die Befriedigung der geistigen und ästhetischen Bedürfnisse der Werktätigen ist nur möglich über die Darstellung, das heißt die künstlerische Gestaltung der Größe und Kraft unserer fortschrittlichen Gesellschaftsordnung, der Freude und Schönheit des Lebens in Frieden und Wohlstand."
Unterlegene des Machtkampfs sind Ministerpräsident und Parteivorsitzender Otto Grotewohl oder Oberbürgermeister Friedrich Ebert. Die Architekten des Planungskollektivs ziehen sich in Folge zurück oder werden bis Anfang 1950 aus dem Magistrat für Groß-Berlin entfernt.
An ihre Stelle treten neugegründete Planungsgruppen mit dem Hauptziel, das durch die administrative Teilung Berlins in die Peripherie geratene Gebiet um den Alexanderplatz mit den östlich gelegenen Arbeiterbezirken funktionell und gestalterisch zu verbinden.
Deutlich wird die Kehrtwende in der SED-Baupolitik an den Worten Walter Ulbrichts, der in seiner Rede auf dem 3. Parteitag der SED im Juli 1950 sagt:
"Das Wichtigste ist, das aus den Trümmern der ... zerstörten Städte solche Städte entstehen, die schöner sind denn je. Einige Architekten ... wollten die Hauptstadt Deutschlands verniedlichen ... und Gebiete der Innenstadt nach den Richtlinien für Stadtrandsiedlungen bebauen. Der Grundsätzliche Fehler dieser Architekten besteht darin, daß sie ... in ihren kosmopolitischen Phantasien glauben, daß man in Berlin Häuser bauen solle, die ebensogut in die südafrikanische Landschaft passen ... Wir wollen in Berlin keine amerikanischen Kästen und keinen hitlerschen Kasernenstil mehr sehen."
Der Vizepräsident der Moskauer Akademie für Architektur Sergij J. Tschernyschew appelliert im Dezember 1951 an die Preisträger des Wettbewerbs Stalinallee:
"Straßen und architektonische Ensembles können sehr verschiedenartige Wirkungen auf das Bewußtsein der Menschen ausüben. Es gibt Bauten und Straßen, die den Menschen Angst einflößen, die sie bedrücken, erdrücken und erschrecken. Beispielsweise die Kasernenarchitektur des italienischen Faschismus. Sie verkörpert die Aggression. Hier ist die Architektur ein Feind des Menschen. Aber hier bei Ihnen handelt es sich um die Straße, die den Namen Stalins trägt. Die Straße muß also die Idee der
Menschlichkeit ausdrücken. Die Architektur muß Lebensfreude und und hohe Gefühle erwecken. In ihr muß die Sorge für den Menschen zum Ausdruck kommen. Diese Architektur muß der Freund des Menschen sein."
 

Vorbild Sowjetunion

Große Bedeutung und Vorbildfunktion bei der städtebaulichen und architektonischen Umorientierung kommt der Entwicklung im Bruderland Sowjetunion zu. Anläßlich Stalins Geburtstags hält sich eine Regierungsdelegation unter Leitung von Walter Ulbricht in Moskau auf, um mit dort führenden Architekten Aspekte des Wiederaufbaus im kriegszerstörten Berlin zu erörtern.
Unter Leitung von Minister Bolz reist Mitte April 1950 eine sechsköpfige Delegation für mehrere Wochen in die Sowjetunion, um sich in Moskau, Stalingrad oder Kiew über die dortigen Probleme der Städteplanung und des Städtebaus zu informieren und Erfahrungen zu Fragen der Architektur und Typenprojektierung, der Mechanisierung und industriellen Fertigung im Bauwesen zu sammeln.
Einer der Teilnehmer ist Kurt W. Leucht - wenig später an den ausgeführten Planungen an der Stalinallee beteiligt. Hermann Henselmann ist zunächst ebenfalls berufen, kann aber wohl wegen seiner Mitarbeit im von Scharoun geleiteten Institut für Bauwesen nicht teilnehmen.
Neben der Betrachtung als vorbildlich geltender Aufbauleistungen in zerstörten russischen Innenstädten übt besonders die repräsentative Gestaltung von Stadträumen mit weiträumigen Straßen und Plätzen und monumentaler Architektur - wie dem Sowjetpalast und sogenannten Wohnpalästen z.B. in der Gorkistraße in Moskau nach Entwürfen von Tschetschulin, Tigranow, Mordwinow oder Wlassow - große Faszination auf die Besucher aus Berlin aus.
Bereits vor der Reise begonnen, entstehen basierend auf diesen Erfahrungen städtebaulich-gestalterische Richtlinien, als "16 Grundsätze des Städtebaues" vom Ministerium für Aufbau publiziert und von der Regierung der DDR am 27. Juli 1950 beschlossen.
Auszüge zeigen die neue Marschrichtung, die beispielhaft für die Stalinallee gelten soll:

"Die Stadtplanung und die architektonische Gestaltung unserer Städte müssen der gesellschaftlichen Ordnung der Deutschen Demokratischen Republik, den fortschrittlichen Traditionen unseres deutschen Volkes sowie den großen Zielen, die dem Aufbau ganz Deutschlands gestellt sind, Ausdruck verleihen. Dem dienen die folgenden Grundsätze: (...)

6. Das Zentrum bildet den bestimmenden Kern der Stadt. Das Zentrum der Stadt ist der politische Mittelpunkt für das Leben seiner Bevölkerung. Im Zentrum der Stadt liegen die wichtigsten politischen, administrativen und kulturellen Stätten. Auf den Plätzen im Stadtzentrum finden die politischen Demonstrationen, die Aufmärsche und die Volksfeiern an Festtagen statt. Das Zentrum der Stadt wird mit den wichtigsten und monumentalsten Gebäuden bebaut, beherrscht die architektonische
Komposition des Stadtplanes und bestimmt die architektonische Silhouette der Stadt. (...)

12. Die Stadt in einen Garten zu verwandeln, ist unmöglich. Selbstverständlich muß für ausreichende Begrünung gesorgt werden. Aber der Grundsatz ist nicht umzustoßen: in der Stadt lebt man städtischer; am Stadtrand oder außerhalb der Stadt lebt man ländlicher.

13. Die vielgeschossige Bauweise ist wirtschaftlicher als die ein- oder zweigeschossige. Sie entspricht auch dem Charakter der Großstadt.

14. Die Stadtplanung ist die Grundlage der architektonischen Gestaltung. Die zentrale Frage der Stadtplanung und der architektonischen Gestaltung der Stadt ist die Schaffung eines individuellen einmaligen Anlitzes der Stadt. Die Architektur muß dem Inhalt nach demokratisch und der Form nach national sein. Die Architektur verwendet dabei die in den fortschrittlichen Traditionen der Vergangenheit verkörperte Erfahrung des Volkes. (...)"
 

Wettbewerb und Dogma nationaler Tradition

Nach den im Bereich der Frankfurter Allee besonders gravierenden Kriegseinwirkungen und den daraufhin zügig voranschreitenden Enttrümmerungsarbeiten bietet sich dem jungen SED-Staat in diesem Straßenzug exemplarisch ein geeigneter Ort zur Demonstration, wie zerstörte Städte nach den "Bedürfnissen der Werktätigen - national, schön und großzügig" wiederaufgebaut werden können.
Der dabei angestrebte Baustil soll im Inhalt demokratisch und sozialistisch und an die ornamentreiche Fassadengestaltung sowjetischer Wohnpaläste im sogenannten Zuckerbäckerstil angelehnt und in der Form national geprägt sein. Hierzu notiert Lothar Bolz in Moskau:
"... das einzige Mal, als unsere sowjetischen Gastgeber die Berliner Stadtplanung ganz scharf ohne jede höfliche Verbrämung kritisierten, handelte es sich um den Vorwurf, daß die großen Traditionen des deutschen Städtebaus und der deutschen Architektur offenbar in Moskau mehr geschätzt würden als in Deutschland, da die Berliner Stadtplanung jeden nationalen Charakter vermissen lasse."
Der nun offenbar von den neuen Idealen überzeugte Oberbürgermeister Ebert sagt auf einer Pressekonferenz Mitte 1951 diesbezüglich:
"Es galt, die jeglicher nationalen Eigenart entfremdete Architektur der vergangenen Jahrzehnte zu überwinden und den bewußten Gegensatz zu ihr und anknüpfend an das große nationale Kulturerbe Neues zu entwickeln. Wir hatten dabei unsere Architekten auf die wertvolle Bautradition Berlins verwiesen, die ihre Verkörperung fand in den Werken der Schlüter, Knobelsdorf, Schinkel usw."
Während in Berlin klassizistische Vorbilder wiederbelebt werden, kommen für andere Teile der Republik weitere regionale Traditionen zum tragen. So steht in Dresden beispielsweise der Barock im Vordergrund, wohingegen in Rostock auf Formen der nordischen Backsteingotik zurückgegriffen werden soll.
Beispielhaft für eine der maßgeblichen Ursachen für den Erfolg Hermann Henselmanns im weiteren Verlauf der Planungen für die Stalinallee ist der im öffentlichen Bewußtsein bald gefestigte Vergleich zwischen seinen Fassadenentwürfen für Bauten an der Weberwiese und Schinkels Feilnerhaus in Kreuzberg von 1829.
Tobias Feilner führte von 1812 bis zu seinem Tod 1839 äußerst erfolgreich eine Tonwarenfabrik und produzierte neben Kachelöfen auch  Terrakottaplastiken, die Schinkel wie an der Friedrichswerderschen Kirche auch an Feilners eigenem Wohnhaus verwandte.
Besonders Details wie die der Baukeramik, Proportionen und Einfassungen der Fenster, vorspringender Fassadenteile oder des Abschlußgesimses mit Kreisornamenten weisen zahlreiche Parallelen auf.
Nach dem Erlaß eines Aufbaugesetzes, das den Kommunen freie Verfügbarkeit des Grund und Bodens zusichert und damit die Möglichkeit zu Enteignungen bietet sowie der Deklaration der Stalinallee zum "Aufbaugebiet", kommt es im April 1951 zur Ausschreibung eines mit insgesamt 135.000 DM dotierten "Wettbewerbs zur Erlangung von Bebauungsvorschlägen und Entwürfen  für die städtebauliche und architektonische Gestaltung der Stalinallee in Berlin" durch den Magistrat.
Der dritte Preisträger Hanns Hopp schreibt später in einem Werkstattbericht:
"Der im Sommer 1951 vom Magistrat Groß-Berlin ausgeschriebene Wettbewerb (...) brachte für uns Architekten die erste Berührung mit einer neuen und ungewöhnlichen Aufgabe. Zum ersten Male in der Geschichte der deutschen Baukunst standen wir Architekten vor der Aufgabe, Wohnstätten für die werktätigen Massen als große repräsentative Gebäude in einem monumentalen städtebaulichen Ensemble zu schaffen. In der Gestaltung dieses Ensembles sollen sich gesellschaftliche Ideen von umfassender Bedeutung verkörpern; denn diese Bauten werden ein unwiderlegbares Dokument unseres friedlichen
nationalen Aufbauwillens sein. Der Name der Straße, an der dieses Werk entstehen wird, verpflichtet zu höchster Leistung."
In den Bedingungen des Wettbewerbs (in: Das neue Gesicht der Stalinallee) heißt es unter anderem:
" (...) Grundlage für den neuen Ausdruckswillen ist unsere neue Gesellschaftsordnung, die den Kampf um ein friedliebendes, demokratisches und einheitliches Deutschland zum Inhalt hat. Der Fünfjahresplan gibt auf wirtschaftlichem und kulturellem Gebiet die Voraussetzungen, mit dem großzügigen Neuaufbau Berlins zu beginnen.
Die deutschen Künstler und mit ihnen die Architekten stehen im unversöhnlichen Kampf gegen den Formalismus, der eine Verfallserscheinung des Imperialismus ist. Unsere Architekten müssen sich in ihren Werken von dem Optimismus unseres Aufbaus, der den wahren Interessen des Volkes dient, leiten lassen.
Die neuen realistischen Ausdrucksformen können nur auf der Grundlage des kritischen Aneignens des Kulturerbes, in erster Linie der Kulturtraditionen des eigenen Volkes, gefunden werden, im bewußten Gegensatz zu den kosmopolitischen Anschauungen, die im Interesse der amerikanischen Weltherrschaftsideen auch in der Architektur jegliche nationale Eigenart ablehnen.
(...) Im kapitalistischen Berlin wurden die Arbeiterviertel mit ihren Mietskasernen im Osten der Stadt zum städtebaulichen Schandfleck der Hauptstadt Deutschlands. Die Neuplanung und der Neuaufbau sehen in erster Linie eine grundlegende Veränderung dieses Stadtteils vor.
(...) Die Stalinallee ist weiter die wichtigste Aufmarschstraße des östlichen Stadtgebietes für Kundgebungen und Demonstrationen im Zentrum und für den traditionellen Aufmarsch zu den Gräbern der großen Sozialisten auf dem Zentralfriedhof in Friedrichsfelde.
Entsprechend ihrer Bedeutung soll die Stalinallee eine repräsentative Gestaltung erfahren, die einmal durch die Breite der Straße und die Höhe der Bebauung und zum anderen durch die architektonische Komposition und Gestaltung der Baukörper zum Ausdruck kommen soll. In der Architektur der Wohnbauten sollen die besten Berliner Bautraditionen kritisch ausgewertet werden. Die neuerstellten Wohnbauten an der Stalinallee entsprechen nicht den gestellten Anforderungen. Ihre mechanische Aneinanderreihung von Wohnungstypen entbehrt jeglicher städtebaulichen Komposition und des architektonischen Ausdrucks. Bei den Entwürfen soll daher auf eine gute Gliederung der Baukörper und auf die Durchbildung der architektonischen Details besonderer Wert gelegt werden. (Balkone, Loggien, Erker, Gesimse, Hauseingänge, Fenster, Sockel usw.)"
Städtebaulich stehen zu Beginn folgende Vorgaben fest: Zwei Richtungsfahrbahnen mit Baumallee, ein Grünstreifen auf der Nordseite, die Verbreiterung der gesamten Allee auf 70 bis 90 Meter, eine Aufteilung in nicht unter acht Geschossen hohe Baublöcke von ca. 250 Meter langen Abschnitten, rythmische Durchgliederung der Bauten durch Vor- und Rücksprünge sowie Höhenstaffelung und platzartige Erweiterungen als torbildende Dominanten am Strausberger Platz und Frankfurter Tor.
Auf der zweiten Sitzung des Preisgerichts (Friedrich Ebert, Bruno Baum, Walter Pisternik, Edmund Collein, Prof. Henn, Fritz Reuter, R.R. Wagner und Roberta Gropper) am 29. August geht aus dem Wettbewerb als Sieger das Kollektiv Egon Hartmann aus Erfurt hervor.
Gleichwohl  betont Oberbürgermeister Ebert, "daß der vom Kollektiv Egon Hartmann erarbeitete und mit dem ersten Preis ausgestattete Entwurf noch keineswegs die Lösung, das von uns erstrebte endgültige Ergebnis ist. Sein Entwurf aber war von all den vorgelegten der reifste. (...) Der preisgekrönte Entwurf des Kollektivs Hartmann gibt also die Richtung an, in der wir sowohl auf städtebaulichen als auch auf architektonischen Gebieten weiterarbeiten müssen."
Da also keiner der mit den ersten Preisen bedachten Entwürfe von der Partei  uneingeschränkte Unterstützung findet, fällt die Entscheidung zur Bildung einer Arbeitsgruppe zur Überarbeitung der Vorschläge durch die Preisträger Hanns Hopp, Richard Paulick, Egon Hartmann, Karl Souradny, Gerhard Strauß, Heinz Auspurg und Kurt W. Leucht.
Mitte September 1951 kommen diese zur Klausur in Kienbaum bei Berlin zusammen und erstellen mit ihrem Kollektiventwurf für die konkrete Gestaltung der Stalinallee in vier Abschnitten den ersten verbindlichen Aufbauplan für Ostberlin - den "Kienbaum-Plan".
Nach Kritik Walter Ulbrichts an diesem - in Unterredungen  mit Lothar Bolz nimmt Ulbricht bis hin zu Fragen der Fensterteilung Einfluß auf die Gestaltung - verfügt das Politbüro der SED, daß sechs unterschiedliche Architektenkollektive bestimmte Abschnitte der Gesamtplanung bis Dezember als Vorentwürfe auszuarbeiten haben.
 

Hermann Henselmann

Zu diesem Zeitpunkt tritt Hermann Henselmann auf den Plan, der zwar nicht am Wettbewerb zur Gestaltung der Stalinallee teilgenommen, aber bereits vorher zunächst abgelehnte Vorschläge eingereicht hatte.
Gemeinsam mit Rolf Göpfert und Emil Leibold kann er mit seinem Entwurf für die Bebauung der Weberwiese und insbesondere des zehnstöckigen Hochhauses mit 33 großzügig geschnittenen Dreizimmerwohnungen und der an Schinkel orientierten Gestaltung die Partei für sich einnehmen und übernimmt in der Folge im Gestaltungskollektiv der Wettbewerbssieger eine tragende Rolle.
Hermann Henselmann (1905-1995) absolviert eine Tischlerlehre sowie eine Ausbildung in der Handwerker- und Kunstschule Berlin, bevor er ab 1927 in verschiedenen Architekturbüros arbeitet und anschließend als freischaffender Architekt tätig wird. 1934 wird er vermutlich aus rassistischen Gründen aus der Reichskulturkammer ausgeschlossen, kann aber dennoch Industrie- und Rüstungsbauaufgaben in den besetzten Ostgebieten übernehmen.
Seit 1946 ist er Mitglied in der SED und von 1953 bis 1959 Chefarchitekt von Berlin (dieser Kompetenzbereich geht 1953 von Staats- zu Stadtplanung über), von 1964 bis 1966 Chefarchitekt der VEB Typenprojektierung und bis 1970 Chefarchitekt im Institut für Städtebau und Architektur der DBA.
Von ihm stammt der erste Fernsehturmentwurf für Berlin (1958), für das Messehochhaus in Leipzig (1968) oder das Zeiss-Hochhaus in Jena (1970).
An seinen Erfolg und damit wachsenden Einfluß ab 1951 erinnert sich Henselmann knapp dreißig Jahre später:
"Ich mußte in mir einen völlig neuen Menschen gebären, um überhaupt in der Lage zu sein, diese Aufgabe zu schaffen, ich spürte wohl bei meinen Genossen, daß sie wollten, daß ich zu ihnen gehöre, sie wollten mich nicht abstoßen, trotz der scharfen Angriffe, die zum Beispiel auch im "Neuen Deutschland" gegen mich gerichtet waren, und als ich dann wütend, voller Wut im Bauch, diesen anderen Entwurf machte, denn ich hatte ja einen modernen Entwurf für die ganze Stalinallee gemacht, und nun für das Haus an der Weberwiese diesen Wettbewerb mitmachte, da sagte ich, na, wenn sie das wollen, dann können sie das auch haben; so eine Trotzhaltung, aber auch mit etwas Eitelkeit vielleicht durchsetzt, mindestens mit Selbstbewußtsein, da hab ich dann am nächsten Tag angerufen, mein Entwurf sei fertig, ich habe Jendretzky angerufen, das war damals der erste Sekretär der Bezirksleitung, und dann Herrnstadt, den Chefredakteur des "Neuen Deutschland", der diesen unglaublichen Artikel gegen mich geschrieben hatte, die beiden gingen mit mir zusammen zu Ulbricht, und da waren Stoph und alle versammelt, und dann zeigte ich diesen Entwurf, die anderen waren inzwischen auch eingetroffen, und dann sagte Ulbricht:
"Gut, dann baun wir ihn." Und da kamen Stoph und Jendretzky auf mich zu und umarmten mich und küßten mich, so wie Breschnew geküßt wird, wenn er auf dem Flughafen in Schönefeld eintrifft, und freuten sich so ungeheuer, daß ich dort akzeptiert wurde, daß mich das innerlich sehr bewegt hat und berührt hat. Ich hab da was begriffen von dem, was man so Solidarität nennt."
Nach weiteren Einzelwettbewerben kann sich Henselmann die Gestaltung der "Sahne-Ecken" am Strausberger Platz und Frankfurter Tor sichern. Sehr zum Ärger Paulicks, der sich zuvor mit seinem städtebaulichen Entwurf einer ovalen Gebäudestruktur am Strausberger Platz durchsetzen konnte.
Seine Gestaltungsmaximen betreffend äußert sich Henselmann:
"Was für Empfindungen kann man haben, wenn man eine Siedlung betritt, in der alle Haustüren gleich sind und man Mühe hat unter den vielen gleichartigen Eingängen den Einschlupf zu finden, in den man hineingehört. Man hat das Gefühl, eine Nummer zu sein, ein ganz kleines unbedeutendes Rädchen im großen Getriebe der Welt. Wir wollen die Benutzer unserer Häuser nicht klein machen, sondern groß."
An anderer Stelle sagt er: "Wir bauen nicht nur Häuser, sondern auch Gefühle."
Im Rahmen einer Tagung des "Architekten- und Ingenieur-Vereins zu Berlin" im Juni 1999 sagt Ludwig Deiters, ehemaliger Mitarbeiter Henselmanns, rückblickend, das Entstehen der Stalinallee sei Ausdruck der Freude der Nachkriegsgeneration gewesen, noch zu leben.
Als Motto der Planungen nach sowjetischem Vorbild habe gegolten: "Schön Wohnen in der großen Gemeinschaft". Henselmann sei sich allerdings der "Künstlichkeit dieses Versuchs vollauf bewußt gewesen" und habe "Spaß und Ironie in diese Aufgabe gelegt".
 

Steine stapeln - Der Nationale Wiederaufbau

In kurzer Zeit entsteht ab September 1951 in Tag- und Nachtschichten und als Symbol des Aufbauwillens propagiert das Hochhaus Weberwiese. Schon nach 141 Tagen wird Richtfest gefeiert, so daß die ersten Mieter - laut "Neues Deutschland" zwei Näherinnen, sechzehn Arbeiter, sieben Brigadiere, zwei Meister, ein Lehrer, zwei Architekten, ein Arzt und ein Volkspolizist - im Mai 1952 einziehen können.
Über dem Hauseingang wird, auf einer aus Hermann Görings ehemaligem Wohnsitz Karinhall entfernten schwarzen Marmorplatte, die speziell hierfür von Bertolt Brecht formulierte Inschrift angebracht: "Friede diesem Hause, Friede dieser Stadt, daß sie den gut behause, der sie gebauet hat."
Bertolt Brecht, mit Hermann Henselmann befreundet, nimmt in seiner "Notiz über eine neue Architektur" im Geist der Zeit Stellung zum Baugeschehen in der jungen Republik:
"(...) Wovon unsere Architekten Kenntnis nehmen müssen: (...) Daß die neue führende Klasse von den Architekten schönes Bauen verlangt (und es ihnen erlaubt!). Daß sie den Satz "Zweckdienlich ist immer schön" nicht anerkennt. (...) Daß die neue führende Klasse ihr Bauen nicht mit dem Bau von drei Millionen Einfamilienhäusern oder etwas komfortableren Mietskasernen beginnt, sondern mit dem Bau von Wohnpalästen. (...) Daß der Sozialismus dazu geführt hat, in Rußland das spezifisch Russische (und das Spezifische vieler nationalen Einheiten) und in Polen das Polnische herauszuarbeiten; daß der Sozialismus dazu führen wird, in Deutschland die deutsche Tradition der großartigsten Epochen zu benutzen."
Als Verfasser einer Portalinschrift soll auch J.W. Goethe wenig später Pate stehen, wenn am "Haus des Kindes" aus Faust zitiert wird:
"Solch ein Gewimmel möchte ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn."
Am benachbarten "Haus Berlin" liest sich an gleicher Stelle: "Als wir aber dann beschlossen endlich unsrer Kraft zu trauen und ein schönres Leben aufzubauen haben Kampf und Müh uns nicht verdrossen."
Ebenso außerhalb des Wettbewerbs für die Stalinallee wird nach Direktvergabe durch das Politbüro unter Richard Paulick 1951 anläßlich der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im August nach nur einwöchiger Entwurfsphase und in Rekordbauzeit von 148 Tagen auf der Nordseite der Allee zwischen Lebuser Straße und Koppenstraße die Deutsche Sporthalle errichtet.
Paulick hatte sich zuvor durch Sportbauten in China sowie den Wiederaufbau des Opernhauses Unter den Linden einen Namen gemacht.
Der nur zwanzigjährige Bestand der Sporthalle ist auch auf die zwangsläufigen Improvisationen am Bau als einem der ersten größeren Neubauprojekte im Nachkriegsberlin zurückzuführen. So werden Träger aus dem ausgebrannten Stahlskelett des zerstörten Zentralviehhofs eingezogen, als Verkleidungselemente Travertin aus Lagerbeständen verwandt, die vor 1945 für andere verbrauchsintensive Zwecke angelegt wurden und Abgüsse von in Berlin-Heinersdorf gelagerten Plastiken und Reliefs, die aus dem Schlüterhof des gesprengten Stadtschlosses stammen, angebracht.
Ende 1951 wird durch das Zentralkomitee der SED das "Nationale Aufbauprogramm Berlin" ins Leben gerufen. Wesentlicher Bestandteil der Finanzierung ist die "Aufbaulotterie", bei der als Preise nach einjähriger Einzahlung von drei Prozent des Monatseinkommens Geldprämien und die Zuweisung der ersten fertiggestellten Wohnungen winken. So stehen zur ersten Verlosung ein Jahr später 1.000 Wohnungen oder wahlweise 1.000 DM zur Verfügung.
Zum Auftakt des Aufbauprogramms nehmen Anfang 1952 etwa 45.000 Menschen, auch aus dem Westteil der Stadt, an freiwilligen Arbeitseinsätzen teil - in insgesamt 4.048.551 Stunden im ganzen Jahr. Unter ihnen sind publikumswirksam und von der Presse begleitet einige der obersten Staats- und Parteigrößen wie Otto Grotewohl, Walter Ulbricht, Lothar Bolz und Friedrich Ebert.
Als Maurerlehrling betätigt sich inmitten des Geschehens auch FDJ-Chef Erich Honecker im Block E Süd.
Hier findet am 3. Februar 1952 die Grundsteinlegung für das Gesamtprojekt Stalinallee durch Ministerpräsident Grotewohl statt, woran wie auch an anderen Bauten eine Wandinschrift im Durchgang des Wohnblocks erinnert.
Für das Gesamtprojekt zwischen Strausberger Platz und Frankfurter Tor erfolgt eine Einteilung in mehrere Bauabschnitte, für die die jeweiligen Meisterwerkstätten verantwortlich zeichnen.
Hermann Henselmanns Meisterwerkstatt I plant mit Abschnitt A die Bebauung des westlichen Abschlusses am Strausberger Platz. Anschließend der im Norden zwischen Weber- und Lebuser Straße und im Süden zwischen Kraut- und Andreasstraße festgesetzte Abschnitt B unter Leitung von Egon Hartmann. Richard Paulick erhält angrenzend an seine Sporthalle zwischen Koppen- und Fruchtstraße (später umbenannt in Straße der Pariser Kommune) Abschnitt C, Kurt W. Leucht in Höhe der Weberwiese an Friedens- und Marchlewskistraße Abschnitt D, Hanns Hopp übernimmt bis zur Tilsiter Straße im Norden und zwischen den beiden bestehenden Laubenganghäusern im Süden Abschnitt E und Karl Souradny den zwischen Thaer- und Bersarinstraße im Norden und Boxhagener und Warschauer Straße im Süden begrenzten Abschnitt F. Hermann Henselmanns Kollektiv ist für die Gestaltung der Turmbauten am Frankfurter Tor verantwortlich und Hanns Hopp außerdem für den östlichsten Abschnitt G zwischen Bersarin- und Proskauer Straße.
Ein meterlanges Modell des gesamten Bauvorhabens wird in der Deutschen Sporthalle ausgestellt und dem aktuellen Planungsstand angepaßt. Weitere Modelle werden in mehrere Städte der Republik verschickt und sollen dort als Beispiel des nationalen Aufbaus dienen. Zu gleichem Zweck begleitet auch die DEFA die Planungen und Bauarbeiten mit diversen Produktionen.
Die Arbeiten gehen, nicht zuletzt dank des "Nationalen Aufbauprogramms", zügig voran.
Als Motivationshilfe werden verschiedene Auszeichnungen und Ehrungen verliehen, oft verbunden mit Gutscheinen oder Freikarten für kulturelle Veranstaltungen.
Besonders verdiente Arbeiter können ihre Konterfeis in den Tageszeitungen oder auf großformatig vor den Baugerüsten ausgestellten Aktivistenbildern wiederfinden.
Den Wettbewerbsgedanken unterhalb der einzelnen Bauabschnitte forcierend, werden Tafeln im sogenannten
Stachanow-System angebracht, auf denen der jeweilige Tagessieger abzulesen ist.
Darüber hinaus ist man bemüht, durch technische Innovationen zu möglichst großen Effizienzsteigerungen zu gelangen.
Etagenkran, Portalkran oder Ruck-Zuck-Karre sind Erfindungen dieser Tage, mit denen Einzelne im Bauprozeß zum erfolgreichen Gelingen des gemeinsamen Werks beitragen wollen. Bis hin zur Berechnung von Steinbruch- und Mörtelstreuverlusten im Vergleich zwischen den Brigaden geht dabei der Wettbewerb, dessen Resultate in ihrer Dynamik mehr und mehr auch stolz als Planübererfüllung vermeldet werden können.
In der von SED-Chef Bruno Baum Mitte 1952 herausgegebenen Schrift "Sozialistischer Wettbewerb an der Stalinallee" wird auf die diesbezüglichen Erfolge bei der Erfüllung des ersten Fünfjahresplans hingewiesen und in den Worten der am Bau Beteiligten sowohl auf praktische Schwierigkeiten als auch auf die Ursachen der vorzuweisenden Resultate eingegangen.
Einige Überschriften aus dieser Veröffentlichung geben den Geist beim Bau der Stalinallee wieder:
- Unser Weg führt zum Erfolg !
- Unserer Jugend muß man helfen !
- Mit den Kräften haushalten !
- Anwendung neuer Arbeitsmethoden erfordert Weiterentwicklung der Technik !
- Gute Baustellenorganisation hilft Kosten senken !
- Die Magdeburger Kollegen gaben uns ein Beispiel !
- Die Erfahrungen der Sowjetunion halfen uns vorwärts !
- Die Erfolge des Wettbewerbs wissenschaftlich auswerten !
- Mit der Intelligenz am sozialistischen Aufbau !
- Frontstadtpolitik bedeutet den Ruin Westberlins !
In einer "Entschließung der am 19.Juli 1952 tagenden Konferenz der bauleitenden Kräfte der Stalinalle" wird Walter Ulbricht zitiert:
"Die Stalinallee ist der Grundstein des Aufbaus zum Sozialismus in der Hauptstadt Deutschlands, Berlin. Sie ist der Grundstein insofern, als diese Bauten dem Volke dienen und ihre Architektur die Entwicklung der Städtebaukunst des neuen Deutschlands verkörpert. (...) Diese überragende Anerkennung und Aufgabenstellung wird die Arbeitenden Berlins und insbesondere die Bauschaffenden der Stalinallee mit neuer großer Begeisterung erfüllen und ihren Arbeitseifer erneut befriedigen."
 

Die Stalinallee als Keimzelle des Widerstands

Daß es bei der Arbeit an den Bauten der Stalinallee nicht nur mit Aufbauenthusiasmus und großer Begeisterung für die sozialistischen Ziele vorangeht und Ulbrichts Worte ein gewisses Wunschdenken ausdrücken, wird zunehmend deutlich.
Als nach Stalins Tod am 5. März 1953 und in Vorbereitung zum 60. Geburtstag Walter Ulbrichts durch die SED und deren Vorsitzenden Baum "freiwillige" Arbeitsnormen-Erhöhungen um mindestens 10% gefordert werden - verbunden mit Reallohn-Senkungen um bis zu 30% - treten die offensichtlichen Widersprüche innerhalb der Gesellschaft offen zu Tage.
Trotz der bald angekündigten "Überprüfung" des Beschlusses zu Normerhöhungen und Arbeitsverpflichtungen formiert sich ab dem 15. Juni ausgehend von den Baustellen der Stalinallee  massiver Widerstand. Am nächsten Tag ziehen bereits etwa 1.500 Arbeiter vom Strausberger Platz an Baustellen der Innenstadt vorbei zum Haus der Ministerien.
Als ein Großteil der Arbeiter nach Eingeständnissen der Staatsführung und mit der Rücknahme der Normerhöhungen die gestellten Forderungen erfüllt sieht, werden die Arbeiten, nach den erfolgten Auswirkungen des Aufstands noch im Ausnahmezustand, wieder aufgenommen.
Am 26. Juni führt eine Gegendemonstration der FDJ unter dem Motto "Unsere Antwort an Provokateure: Festes Vertrauen zur Regierung" vorbei an den Baugerüsten der Stalinallee.
Bertolt Brecht schreibt in seinem Gedicht "Die Lösung":
"Nach dem Aufstand des 17. Juni
Ließ der Sekretär des Schriftstellerverbands
In der Stalinallee Flugblätter verteilen
Auf denen zu lesen war, daß das Volk
Das Vertrauen der Regierung verscherzt
habe.
Und es nur durch verdoppelte Arbeit
Zurückerobern könne. Wäre es da
Nicht doch einfacher, die Regierung
Löste das Volk auf und
Wählte ein anderes?"
 

Sozialistischer Wohlstand

Im Rahmen eines Festaktes werden am 21. Dezember 1952 in der provisorisch wiederhergestellten Staatsoper die ersten 1.148 Wohnungen der Stalinallee übergeben. Nach festgelegtem Verteilungsschlüssel an 677 Arbeiter, 322 Angestellte und 149 "Angehörige der Intelligenz".
Da das zuständige Fernheizkraftwerk am Küstriner Platz nicht rechtzeitig fertiggestellt werden kann, übernimmt im Winter 1952/1953 eine Dampflokomotive die Versorgung mit Fernwärme.
Bereits Anfang Mai 1953 sind nach gerade einjähriger Bauzeit 2.100 Wohnungen bezugsfertig. Ende des Jahres kommen 90 Läden hinzu und die Zahl der Wohneinheiten wächst (wohl nicht aufgrund verdoppelter Arbeit) auf insgesamt 2.569 entlang der Allee an. Bis 1960 sollen es im Gesamtgebiet bis hin zur Friedenstraße im Norden und der S-Bahn im Süden rund 5.500 Einheiten werden.
Bei den Gebäuden handelt es sich prinzipiell um massiven Mauerwerksbau (unter anderem in der "2er, 3er- und 5er-Methode" nach dem Prinzip beteiligter polnischer Arbeiter oder im in Abschnitt F-Nord entwickelten  sogenannten "Sparverband") mit Stahlbetondecken.
Das tragende Gerüst besteht in der Regel aus Vollziegelwänden der Außen- und Mittelwände, zwischen 25 und 38 cm dick.
Versuchsweise werden Teile unter Paulick am Block C Nord oder bei den Hochbauten am Strausberger Platz als Ausnahme auch in Stahlbetonskelettbau ausgeführt.
In den Erdgeschossen und teilweise auch im 1. Obergeschoß sind entsprechend vorher festgelegter Verkaufsstellenplanung Läden, Gaststätten sowie sonstige Dienstleistungen untergebracht. Entgegen der in den Wettbewerbsbedingungen noch geforderten Konzentration auf der Südseite der Allee, befinden sich Einrichtungen wie die HO Milchtrinkhalle, HO Hüte und Putz, diverse Konsum-Märkte oder mehrere Aufklärungslokale der Nationalen Front auf beiden Straßenseiten.
Heute sind diese laut Aussagen eines Sprechers der neuen Besitzergesellschaft DePfa nur schwer vermietbar, da "der Zuschnitt der Ladeneinheiten mit geringer Tiefe aber großer Breite aus verkaufstechnischer Sicht ungünstig" ist und es außerdem direkt an der Allee wenig Parkplätze gibt.
Von den ursprünglichen Ladeneinrichtungen sind bis heute nur wenige im Originalzustand erhalten geblieben, so die "Karl-Marx-Buchhandlung" oder die "Wein&Sekt-Handlung Butz". (Foto 27)
An den Wettbewerbsvorgaben orientiert handelt es sich bei den Wohneinheiten um 5% Einzimmer-, 59% Zweizimmer-, 28% Dreizimmer- und 8% Vier- bis Fünfzimmerwohnungen in Drei- oder Vierspännergebäuden.
Die durchschnittliche Fläche beträgt 42 qm für Einzimmerwohnungen, 67 qm für Zwei-, 75 qm für Drei- und 105 qm für Vierzimmerwohnungen.
Alle sind - für die Nachkriegsverhältnisse geradezu luxuriös - mit Bad und WC (bei größeren Wohnungen getrennt) ausgestattet und verfügen über Fernheizung. Teilweise sind Balkons und Loggien zugeordnet, nicht zuletzt auch großflächige Terrassen über den Sockelgeschossen sowie sich teilweise über Gebäudeabschnitte ausdehnende Dachgärten mit reich verzierten Balustraden.
Die Nutzung dieser reicht in der Praxis heute wie wohl bereits kurz nach Entstehen der Stalinallee vom Wäschetrocknen über Sonnen bis hin zur Aneignung durch sich hier begegnenden Jugendgruppen zu verschiedenen Zwecken. (Fotos 14-18)
Die meisten Wohnungen lassen sich mit dem Aufzug erreichen. Die technische Ausstattung steht von Beginn an auf dem Stand der Zeit. So gibt es frühzeitig Fernseh- und Telefonanschluß (auf den in Altbauten im Ostteil Berlins bis in die achtziger Jahre noch so mancher  wartet), Türsprechanlagen sowie Müllschlucker. Diese werden nach Angaben von Bewohnern bei den derzeitigen Sanierungsarbeiten allerdings wegen Kakerlakenbefall außer Betrieb genommen.
Charakteristisch sind für alle Wohnungsgrundrisse breite Flure, die teilweise durch Innenverglasungen erhellt und vielfältig nutzbar gemacht werden. Als Mindestgröße wird für alle Zimmer eine Fläche von 12 qm festgelegt.
Besonders in den prägnanten Kopfbauten befinden sich repräsentative Hausflur- und saalhohe Eingangszonen. Wie auch bei der gesamten Fassadengestaltung finden sich hier mitunter üppig detailierte Architekturelemente in Rückgriff auf klassizistische Vorbilder und aufwendige Kunst am Bau. Schmiedeeisenarbeiten an Treppengeländern, Brüstungen Französischer Fenster und in Inneneinrichtungen oder Wandgemälde wie im Foyer des "Haus des Kindes" am Strausberger Platz (Fotos 5,7) tragen dazu bei, daß bis heute nachweislich von einer Identifikation der Bewohner mit ihrer Umgebung gesprochen werden kann.
Mit 70% ist ein Großteil der heutigen Mieter noch zu den Nachkommen und Erben der Erstbeziehenden zu zählen. 1994 liegt die Zahl der Erstmieter selbst immerhin noch bei 20%.
Laut Presseangaben sind 1996 85% der Bewohner im Rentenalter.
Bei der Zuteilung von Wohnungen läßt sich eine nicht nur an der Personenzahl der Familie orientierte Hierarchie erkennen. Neben in großer Zahl auch an der Entstehung der Allee selbst beteiligten Arbeitern, erhalten besonders verdiente Staatsträger und die Nomenklatura oftmals das Privileg, sich die größten oder bestgelegensten Wohnungen zu sichern. Ein Blick auf die Namensschilder an einigen Gebäuden zeigt dieses auch heute.
Ursprünglich sind alle Mieten stark subventioniert. So beträgt die Wohnungsmiete pro qm lediglich 0,90 DM zuzüglich 0,05 DM für Fernheizung und Warmwasser. Mittlerweile sind es 6 bis 7 DM für unsanierte, bis zu 14 DM für sanierte Wohnungen und ganze 20 DM für zeitgemäß als "Penthouse" angebotene Apartments.
Zu den Intentionen der DDR-Wohnungsbauwirtschaft sagt SED-Chef Bruno Baum 1952 vor der Konferenz der bauleitenden Kräfte:
"Nur da, wo man solide aufbaut und nach wissenschaftlichen Grundsätzen vorgeht, kann man zur Besserstellung des Lebens kommen. Jeder von uns braucht nur die Bauten zu betrachten und braucht sich nur zu besinnen und zu rechnen. Wenn wir diese Wohnungen bauen und wollten die Mieten und andere Dinge etwa nach dem üblichen kapitalistischen Maßstab berechnen, was dann die Mieten kosten würden, kann sich jeder vorstellen. Es ist klar, daß kein Arbeiter in der Lage wäre, dort zu wohnen."
 

Abschluß einer gebauten Vision - Umorientierung und Interessenverlagerung

Nachdem die Bauabschnitte stufenweise fertiggestellt und bezogen werden können - so 1954 die beiden Hochhäuser "Haus des Kindes" und "Haus Berlin" am Strausberger Platz (Foto 3) - sind im August 1956 auch beide kuppelbekrönten  Bauten am Frankfurter Tor als Pendant vollendet (Foto 24). Inspiration findet Henselmann bei diesem Entwurf in den Plänen Karl von Gontards für den Deutschen und Französischen Dom am Gendarmenmarkt.
Um 1958 ist die Stalinallee als Gesamtvorhaben abgeschlossen. Den Blick vorwärts und nun in Richtung Stadtzentrum um den Alexanderplatz gerichtet, kommen im Auftrag der SED erste Pläne für eine Verlängerung der Magistrale auf.
Auch Hermann Henselmann beteiligt sich erneut unaufgefordert und wird unter anderem wegen vorgeschlagener Laubengang- und Punkthochhäuser als politisch abweichend kritisiert und daraufhin als Chefarchitekt Berlins abgelöst.
Von 1959 bis 1965 entstehen zwischen Strausberger und Alexanderplatz nach einem Bebauungsvorschlag von Edmund Collein und Werner Dutschke vom Institut für Gebiets-, Stadt- und Dorfplanung der Bauakademie und unter Leitung von Josef Kaiser Zeilenbauten in Plattenbauweise, insgesamt 4.674 Wohnungen in acht- und zehngeschossigen Wohnhäusern. Hierfür werden bestehende Vorkriegsbauten abgerissen und noch vorhandene Trümmerbereiche in erneut groß angelegten Freiwilligeneinsätzen, so anläßlich der Eröffnung des V. Parteitages der SED im Juli 1958, abgeräumt.
Als einer der Urheber des mit den bautechnischen Veränderungen einhergehenden Stilwandels kann KPdSU-Chef Nikita S. Chruschtschow gesehen werden, der auf der "Allunionskonferenz der Baufachleute" Ende 1954 die Losung ausgibt: "Besser, billiger und schneller bauen".
Beginnend mit Chruschtschows Rede auf dem XX. Parteitag der KPdSU setzt eine Phase der Abrechnung mit dem nun zur Unperson erklärten Josef Stalin ein.
Ebenso wie Stalinstadt deshalb seit Ende 1961 Eisenhüttenstadt heißt, wird die Stalinallee in der Folge in Karl-Marx-Allee umbenannt. Östlich des Frankfurter Tors erhält sie ihre ehemalige Bezeichnung Frankfurter Allee wieder.
Vollzogen wird die Umbenennung der Straße und ihrer S- und U-Bahnhöfe, ebenso wie der Abriß des zehn Jahre zuvor durch Ulbricht, Grotewohl und Pieck geweihten Stalindenkmals, in einer regnerischen Nacht vom 13. auf den 14. November.
1960 bis 1962 entsteht nach Entwürfen von Josef Kaiser und Herbert Aust auf der Nordseite der Allee das "Filmtheater Kosmos" mit 1.001 Plätzen. Ist sein Platz gegenüber eines der Laubenganghäuser schon in früheren Planungen vorgesehen, fällt der Bau aber in Form und Gestaltung aus der Reihe der neohistorisch anmutenden Bebauung der Umgebung. (Foto 28)
Statt eines einfachen Fahnenmastes und der zwischenzeitlich angedachten Versetzung des Stalindenkmals in die Mitte des Strausberger Platzes befindet sich dort seit 1967 aus Nirosta-Stahl gefertigt der "Schwebender-Ring-Brunnen" des Künstlers Fritz Kühn und späteren Palast der Republik-Architekten Heinz Graffunder, spöttisch auch "Parteitagsbrause" genannt.
Gemäß dem Wunsch der Regierenden schießt dessen Fontäne mit 18 Metern genau doppelt so hoch in die Höhe wie die der Brunnen am Pariser Platz. (Foto 19)
Kühn verwendet für seine auch in einigen Bauabschnitten zu findenden schmiedeeisernen Arbeiten Material, das er zuvor aus den Trümmern der alten Frankfurter Allee birgt. (Foto 12)
Das Ensemble zwischen Strausberger Platz und Proskauer Straße wird 1970, einschließlich des Hochhauses an der Weberwiese, als "Denkmal des sozialistischen Aufbaus" erstmals unter Denkmalschutz gestellt.
Nicht betroffen hiervon ist die Deutsche Sporthalle, die in "Klub der Jugend und Sportler" umbenannt zuletzt noch als Ort für Tanzabende oder Weihnachtsmärkte dient und im Herbst 1971 wegen offensichtlicher Einsturzgefahr nach Aufgabe zuvor bestehender Rekonstruktionspläne abgerissen wird.
Ersatzweise wird hier und symmetrisch dazu auf der gegenüberliegenden Straßenseite an Stelle des entfernten Stalindenkmals 1973 mit dem Bau zweier Plattenwohnbauten begonnen. Ihre graugrünlich schimmernden Fassaden stellen mit dem jüngst an der Straße der Pariser Kommune errichteten Hochhaus der Allianz die einzigen augenfälligen Ausnahmen im ansonsten einheitlichen Erscheinungsbild der Allee im sozialistischen Kleid der fünfziger Jahre dar.
Diesbezüglich spricht unter anderem W. Durth 1991 in einem Artikel in der "Stadtbauwelt" von einer "wünschenswerten Modifizierung" der Plattenbauten. (Foto 29)
 

Die Vergänglichkeit des Glanzes und gegenwärtige Sanierung des Denkmals

Einige Keramikteile der ohne Hinterlüftung und ausreichende Dehnungsfugen ins Mörtelbett aufgebrachten
Fassadenverkleidungen lösen sich bereits 1954, womit frühzeitig die ersten Meißner Kacheln zu Bruch gehen. Insgesamt wird für die folgenden vierzig Jahre von etwa 50.000 qm Verlustfläche - und damit der Hälfte aller Teile - ausgegangen.
Auch andere Schäden wie an den Flachdächern, Entwässerungsrohren, an Abdeckungen von Vorsprüngen, Balustraden, Attiken und Gesimsen, an Steinholzfußböden oder Fahrstuhlanlagen lassen teilweise nicht allzu lange auf sich warten.
Hierzu heißt es in einer Information an die SED vom 7. März 1956:
"In den letzten Jahren traten in den Neubauten der Stalinallee Schäden und Mängel auf, die zu einer ständigen politischen Beunruhigung der Mieter führten. Die Hauptursachen (...) liegen darin, daß (...) zum Teil noch nicht genügend bewährte Konstruktionen zur Anwendung gelangten bzw. Baustoffe zum Einbau kamen, die in der Praxis noch nicht ausreichend erprobt waren. Nach (...) Schätzungen ist für die Beseitigung dieser Schäden eine Gesamtsumme von rund sechs Millionen DM
erforderlich."
Da ein Großteil der Kräfte sich nach dem Abrüsten in der Stalinallee jedoch auf den Aufbau des Zentrums konzentriert und sich die Aufmerksamkeit zunehmend auf die Konzepte des neuen rationellen Bauens richtet, lassen notwendig gewordene Sanierungsarbeiten zunächst auf sich warten.
Auch aufgrund wirtschaftlicher Engpässe bleiben Reparaturen meist sporadisch und die nach anfänglicher Blütezeit der Allee eher vernachlässigten Grünflächen vervollständigen das verblassende Gesamtbild.
Nach Walter Ulbrichts Tod 1973 gewinnt die Karl-Marx-Allee unter Erich Honecker neben ihrer Bedeutung als Trauerpromenade in Richtung Friedrichsfelde allerdings erneut an Gewicht in ihrer Funktion als offizielle Demonstrationsmeile der Republik. Bis 1988 defilieren Panzerkolonnen und beflaggte Massen an der Ehrentribühne neben dem im späteren Bauabschnitt der Straße errichteten Kino "International" vorbei.
Erste größere Erneuerung erfährt ein Teil der Allee erst zu Beginn der achtziger Jahre, als das "Haus des Kindes" am Strausberger Platz in nicht mehr vertretbarem baulichen Zustand grundlegend umgebaut wird. Zuvor waren wegen funktioneller und sicherheitstechnischer Mängel bereits in den siebziger Jahren das im Keller befindliche Puppentheater und ein Kindercafé geschlossen worden.
Mit der politischen Wende in der DDR und der Deutschen Einheit 1990 verändern sich auch die Rahmenbedingungen für das "Denkmal des sozialistischen Aufbaus" sowie seine Erhaltungsmöglichkeiten schlagartig.
Das gesamte bauliche Ensemble wird als längstes zusammenhängendes Baudenkmal in Deutschland unter Denkmalschutz gestellt sowie zum europäischen Baudenkmal erklärt. Auch der westliche Plattenbauabschnitt bis zum Alexanderplatz fällt, nicht unumstritten, hierunter.
Von 1990 bis 1993 gibt die zuständige Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain für etwa 5,5 Millionen DM einzelne Sanierungs- und Modernisierungsarbeiten, so am Block F Süd und dem "Haus Berlin", in Auftrag.
Im Dezember 1993 erfolgt für knapp 100 Millionen DM der Verkauf von 2.767 Wohnungen und 185 Läden zwischen Strausberger Platz und Frankfurter Tor an die Wiesbadener "Deutsche Pfandbrief -Immobilienmanagement AG". Da die Wohnungsbaugesellschaft Friedrichshain die Grundstücke in Erbpacht für 99 Jahre vergibt, bleibt sie weiterhin Verwalterin der Häuser.
Unter Leitung des Potsdamer Architekturbüros Gibbins, Bultmann und Partner beginnt 1995 die Generalsanierung des Gesamtgebietes. Die auf jede Wohnung im Schnitt anfallenden Kosten von 150.000 DM - davon ein Drittel aufgrund der Auflagen des Denkmalschutzes - werden unter Mithilfe öffentlicher Mittel in Form von Steuerabschreibungsmöglichkeiten durch Immobilienfonds privater Anleger finanziert.
Die technische Ausführung der Fassadensanierung und der benötigten Keramik-Formteile in originalgetreuer Nachbildung und Farbschattierung wird an den beiden Blöcken C von Richard Paulick exemplarisch durch ein süddeutsches Unternehmen übernommen.
Auf den Gebäuderückseiten wird teilweise, wie schon bei der Errichtung in den fünfziger Jahren und damit denkmalpflegerisch korrekt, aus Kostengründen lediglich verputzt.
Voraussichtliches Ende der Sanierungsarbeiten sollte Ende 1999 sein. Bis dahin sind die mit in der Regel 2,15
Monatsnettokaltmieten Rückerstattung abgefundenen verbliebenen Mieter hinter den zur Teilfinanzierung mit Werbeplakaten verhangenen Baugerüsten auf die zwangsläufige Geduldsprobe gestellt.
Im Januar 1999 konstituiert sich mit Unterstützung des Bezirksamtes ein Förderverein Karl-Marx-Allee, der sowohl wirtschaftliche als auch allgemeine Interessen der Anwohner vertreten will. Sind Ende 1993 von ursprünglich 149 Läden und Restaurants nur noch 26 in Betrieb, haben sich mittlerweile wieder für die Hälfte Mieter gefunden.
Nach Vorbild alter Plakatsäulen - ehemals hauptsächlich zu politischen Werbezwecken genutzt und teilweise noch erhalten - ergänzen nun gläserne Vitrinen nach Vorbild des Kurfürstendamm das Straßenbild. Da diese aufgrund einer Monatsmiete von 1.000 DM kaum von den Geschäftsleuten der Allee genutzt werden, muß der unattraktive Leerstand im Rahmen temporärer Aktionen künstlich gefüllt werden.
Seit 1996 soll das unterirdisch zum Multiplex-Kino gewachsene "Kosmos" nicht nur Publikum aus der nächsten Umgebung anziehen und diverse Freiluftveranstaltungen (Foto 25) für mehr Leben auf den gut zwei Kilometern zwischen den Schmuckfassaden sorgen. Und so setzen Förderverein wie Gewerbetreibende auf die wachsende Attraktivität und touristische Zugkraft des Baudenkmals als
eines wieder aufpolierten Spiegels seiner  Zeit.
 
 

 Literatur:

1. Amt für Information des Magistrats von Groß-Berlin unter Mitwirkung der Abt. Aufbau: Das neue Gesicht der Stalinallee, Berlin
1951
2. Baum, Bruno: Sozialistischer Wettbewerb an der Stalinallee, Berlin 1952
3. Schriften des Instituts für Theorie und Geschichte der Baukunst der Deutschen Bauakademie (Hg.): Deutsche Baukunst in zehn Jahrhunderten, Dresden 1952
4. Staatliche Museen zu Berlin/DDR (Hg.): Karl Friedrich Schinkel. 1781-1841, Berlin 1980
5. Geist, Jonas: Das Berliner Mietshaus Bd.3. 1945-1989, München 1989
6. García Márquez, Gabriel: Die Stalinallee, In: Go East ! DDR - Der nahe Osten, Berlin 1990
7. Schätzke, Andreas: Zwischen Bauhaus und Stalinallee. Architekturdiskussion im östlichen Deutschland 1945-1955, Braunschweig
1991
8. Köhler, Tilo: Unser die Straße - Unser der Sieg. Die Stalinallee, Berlin 1993
9. Berning, Maria; Braum, Michael; Lütke Daldrup, Engelbert und Schulz, Klaus-Dieter: Berliner Wohnquartiere, Berlin 1994
10. Engel, Helmut und Ribbe, Wolfgang (Hg.): Karl-Marx-Allee. Magistrale in Berlin. Die Wandlung der sozialistischen Prachtstraße zur Hauptstraße des Berliner Ostens, Berlin 1996
11. Mielke, Michael: Kein Lob für die Gegenwart, In: Die Welt, 7.6.1996
12. Hilzheimer, Achim: Von der Frankfurter zur Stalinallee, Berlin 1997
13. Cuadra, Manuel und Toyka, Rolf / Architektenkammer Hessen: Berlin Karl-Marx-Allee, Hamburg 1997
14. Nicolaus, Herbert und Obeth, Alexander: Die Stalinallee, Berlin 1997
15. Elwers, Reiner: Berlins unbekannte Kulturdenkmäler, Hamburg 1998
16. Hoffmann, Andreas: Verschwundene Orte, Berlin 1998
17. Guratzsch, Dankwart: Stalinallee gegen Hansa-Viertel, In: Die Welt, 7.6.1999
18. König, Matthias: Zweieinhalb Kilometer Vergangenheit und Zukunft, In: Berliner Zeitung Nr. 152, 3.7.1999
19. http://www.welt.de: Korzilius
20. http://www.tagesspiegel.de: ehem. Karl-Marx-Buchhandlung
 
 


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