Gabriel García Márquez (geb. 1928 in Aracataca/Kolumbien, 1959 als Journalist in der DDR)
Die offizielle Grenze zwischen den beiden
Berlin
ist das Brandenburger Tor auf dem die rote Fahne mit Hammer und Sichel
weht. Fünfzig Meter vorher ist ein beunruhigendes Schild:
»Achtung,
Sie betreten den sowjetischen Sektor.« Wir kamen gegen Abend vor
diesem Schild an, nachdem wir Westberlin kennengelernt hatten.
Instinktiv
verlangsamte Franco die Geschwindigkeit. Ein russischer Polizist
bedeutete
uns durch Zeichen anzuhalten, prüfte das Auto mit rein
verwaltungstechnischem
Blick und ließ uns weiterfahren. Der Übergang ist so
einfach,
wie wenn man auf das Grün der Verkehrsampel wartet. Aber der
Wechsel
ist zu erkennen. Und er ist brutal. Wir kamen direkt Unter den Linden
an,
die früher zu den schönsten Alleen der Welt zählte.
Jetzt
sind dort nur hoch rauchgeschwärzte Säulenreste, im Leeren
stehende
Portale, von Moos und Gras gespaltene Fundamente. Nicht ein einziger
Quadratmeter
ist wiederaufgebaut worden.
Je weiter man nach Ostberlin hineinfährt,
um so mehr begreift man, daß es weniger einen Unterschied
zwischen
den Systemen als zwei entgegengesetzte Mentalitäten beiderseits
des
Brandenburger Tors gibt. An den wenigen unversehrten Blocks im
Ostsektor
sind noch die Einschüsse der Artillerie. Die Läden sind
schäbig.
Hinter durch die Bombardements entstandenen Schießscharten
verschanzt,
mit geschmacklosen Artikeln von mittelmäßiger Qualität.
Es gibt ganze Straßen mit zerbombten Gebäuden, von deren
oberen
Stockwerken nur noch die Außenwände stehen. Die Menschen
leben
zusammengedrängt in den unteren Stockwerken, ohne sanitäre
Anlagen
und ohne Wasser und die Wäsche hängt zum Trocknen vor den
Fenstern
wie in den Gassen von Neapel. Nachts leuchtet anstelle der
Leuchtreklame,
die Westberlin in Farben taucht, auf der Ostseite nur der rote Stern.
Das
Verdienst dieser dunklen Stadt ist, daß sie in der Tat der
wirtschaftlichen
Realität des Landes entspricht. Mit Ausnahme der Stalinallee.
Die sozialistische Antwort auf Westberlins
Aufschwung
ist der monumentale Kitsch der Stalinallee, deren Dimensionen ebenso
überwältigend
sind wie ihre Geschmacklosigkeit. Eine unverdauliche Stilmischung, die
Moskaus architektonischen Grundsätzen entspricht. Die Stalinallee
hat eine gewaltige Perspektive mit Wohnhäusern wie die der armen
Reichen
in der Provinz, aber geballt, mit unermeßlich vielen Tonnen von
Marmor,
mit blumenverzierten Kapitellen, Tieren und Masken aus Stein und
langweiligen
Portalen mit imitierten griechischen Statuen aus Beton.
Das Kriterium derer, die dieses Ungeheuer
konzipierten,
ist von grundlegender Bedeutung. Hitlers Prachtstraße war Unter
den
Linden. Die Prachtstraße des sozialistischen Berlins -
größer,
breiter, klotziger und häßlicher - ist die Stalinallee. In
Westberlin
baut man eine Stadt für Reiche, dieselben, die sich vor dem Krieg
Unter den Linden trafen. In der Stalinallee wohnen 11000 Arbeiter. Es
gibt
Restaurants, Kinos, Kabaretts. Theater, die für alle erschwinglich
sind. Jedes einzelne ist ein Überschwang von Kitsch: mit violettem
Samt bezogene Möbel, grüne Teppiche mit goldenen Rändern
und vor allem Spiegel und Marmor allerorten, sogar auf den Toiletten.
Kein
Arbeiter lebt irgendwo auf der Welt und zu einem so lächerlichen
Preis
besser als in der Stalinallee. Aber gegenüber den 11000
Privilegierten,
die dort wohnen, gibt es eine in Mansarden zusammengepferchte
Menschenmasse,
die meint - und sie sagt es offen -, daß das, was die Statuen,
der
Marmor, der Samt und die Spiegel gekostet haben, ausgereicht
hätte,
um die ganze Stadt anständig wiederaufzubauen.
Man hat ausgerechnet, daß Berlin, wenn
ein Krieg ausbricht, zwanzig Minuten überleben wird. Aber wenn er
nicht ausbricht, werden die zwei Berlins in fünfzig, hundert
Jahren,
wenn eines der beiden Systeme die Oberhand gewonnen hat, eine einzige
Stadt
sein. Eine monströse Handelsmesse, die aus den Gratismustern der
beiden
Systeme besteht.